Home RECHTaktuell Gastkommentare Corona-Fristen: Rendezvous um Mitternacht

COVID-19 UND FRISTENVERLÄNGERUNG

Corona-Fristen: Rendezvous um Mitternacht

Der Teufel liegt im Detail. An der Rechtsprechung zu den Corona-Maßnahmen hat sich das einmal mehr gezeigt. So auch bei der Verlängerung von Fristen, wo ein einzelnes Wörtchen für Verwirrung sorgte. Wie’s dazu kam, erklärt OLG-Senatspräsident Reinhard Hinger in einer kurzweiligen Glosse.

Artikel teilen
Reinhard Hinger
Reinhard Hinger
Senatspräsident des OLG Wien und ÖJZ-Autor
Redaktion
Reinhard Hinger
Datum
01. September 2020

Es gibt einen Kontext, bei dem der Abstand zwischen „am“ und „mit“ noch größer ist als vermutet – und noch dazu rechtlich höchst relevant. Zuletzt wurde dies deutlich, als prozessuale Fristen wegen der Alltagsbeschränkungen zur Bekämpfung von Covid-19 verlängert wurden. Der Gesetzgeber entschloss sich zu einem Fristenmoratorium, das um den Monatswechsel April/Mai 2020 enden sollte. Das Gesetz enthielt zum Neubeginn der Fristen den Satz: „Sie beginnen mit 1. Mai 2020 neu zu laufen.“ Um Gerichtskanzleien die Arbeit zu erleichtern, wurde dazu auf der Homepage des Oberlandesgerichts Wien die Information veröffentlicht, dass 14-tägige Fristen am 15.5.2020 und vierwöchige Fristen am 29.5.2020 enden werden. Bald wurden jedoch Zweifel geäußert, ob dies wirklich zutrifft.

Das Problem bei der Interpretation des Gesetzes in der ursprünglichen Fassung: Die Zivilprozessordnung kennt keinen Fristbeginn „mit“ einem bestimmten Tag. In § 125 ZPO beginnen alle Fristen „an“ einem bestimmten Tag. Dort wird dies so formuliert, dass bei Tagesfristen jener Tag nicht mitgerechnet wird, „in welchen [...] die Ereignung fällt, [die] die Frist auslösen soll“. Wenn also eine Ereignung (zum Beispiel eine Zustellung) „in einen Tag“ fällt, lässt sich umgangssprachlich formulieren, das Ereignis habe „an“ diesem Tag stattgefunden – und zwar irgendwann zwischen dem Beginn und dem Ende des Tages.

 
 

Verunsicherung bei Corona-Fristenverlängerung

§ 125 Abs 2 ZPO, der sich mit Fristen beschäftigt, die nach Wochen, Monaten oder Jahren bestimmt sind, enthält die wichtige Regel, dass der Tag, „an“ dem die Frist begonnen hat, nicht mitzurechnen ist. Hier unterscheidet sich die Rechtssprache nicht von der Alltagssprache. Die ursprüngliche Formulierung enthielt aber nicht die Anordnung, die Fristen würden „am 1. Mai“ neu beginnen, sondern „mit 1. Mai“. Ein Fristbeginn „mit“ einem Tag lässt sich durchaus so lesen, dass die Frist und der Tag im selben Moment beginnen. Die Frist beginnt mit dem Tag und der Tag beginnt mit der Frist – ein mitternächtliches Rendezvous.

Zur großen Erleichterung des Autors hat der Gesetzgeber verhindert, dass die Saat des Zweifels geerntet werden muss: Die Bestimmung wurde binnen kurzer Zeit dadurch umformuliert, dass nun in Bezug auf den 1. Mai 2020 die etwas umständliche (aber erprobte und ausjudizierte) Formulierung des § 125 ZPO gilt. Gern sage ich den Gesetzgebern sowie den Legistinnen und Legisten Dank dafür.

Gekürzte Version einer sprachkritischen Glosse von Reinhard Hinger für die August-Ausgabe der „ÖJZ – Österreichische Juristenzeitung“. Im Printmagazin finden Sie den gesamten Text mit den entsprechenden Zitaten und Verweisen.

Die „Sprache und Recht“-Glossen der ÖJZ-Redaktion gibt es auch in Buchform und sind im Webshop erhältlich.

„Die Frist beginnt mit dem Tag und der Tag beginnt mit der Frist – ein mitternächtliches Rendezvous.“
Reinhard Hinger, Senatspräsident des OLG Wien und ÖJZ-Autor