„Die Verfassung ist mehr als der Buchstabe des Gesetzes“
Durch die Entscheidung zu den Corona-Verordnungen und die Ibiza-Krise stand die Verfassung während der letzten beiden Jahre im Fokus des öffentlichen Interesses. Was auch die Wahrnehmung des Jubiläumsjahres verstärken dürfte. 2020 werden immerhin der 100. Geburtstag der Bundesverfassung und des österreichischen Verfassungsgerichtshofes gefeiert.
Als gänzlich einzigartig sieht Präsident Christoph Grabenwarter die gegenwärtige Situation dennoch nicht: „Gerade die letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass das 100 Jahre alte Regelwerk auch in Zeiten von Krisen sehr gut funktioniert – begonnen bei der Finanzkrise über die Flüchtlingsströme des Jahres 2015 bis heute. Die österreichische Bundesverfassung ist daher für die aktuelle Situation bestens gerüstet.“
Wie schön ist die Verfassung?
In der Vergangenheit wurde die Verfassung mit ihren zahlreichen Nebengesetzen gelegentlich als unübersichtliches Flickwerk bezeichnet, das der Überarbeitung bedürfe. Seit einer Wortmeldung des Bundespräsidenten in der Ibiza-Krise verbindet man mit der Verfassung auch „Eleganz“ und „Schönheit“.
Grabenwarter: „Der Bundespräsident hat damit vor allem das Staatsorganisationsrecht angesprochen, an dem er sich in seiner Rolle nach dem Misstrauensvotum gegen die Regierung orientieren konnte. Diesem Befund ist voll zuzustimmen.“ Die größte Verfassungsänderung in der Geschichte ergab sich durch den EU-Beitritt 1995. „Dass die Verfassung dadurch unübersichtlicher wurde, kann man beklagen. Gleichzeitig begreifen wir die Mitgliedschaft in der Europäischen Union jedoch als Meilenstein in der Entwicklung Österreichs.“
Anläufe, die Verfassung zu novellieren, gab es immer wieder – bis vor 15 Jahren beispielsweise in Gestalt des Österreich-Konvents. Der VfGH-Präsident sieht das Thema gelassen: „Wenn eine Novellierung gelingt, ist das schön. Wenn nicht, arbeiten der Verfassungsgerichtshof und die Spezialistinnen und Spezialisten im Verfassungsrecht auch sehr gut mit der Verfassung in ihrer gegenwärtigen Form.“
Lebendige Verfassung
Geändert und erweitert hat sich nicht nur die Verfassung selbst im Laufe des 100-jährigen Bestehens. Auch die Judikatur hat sich der sich wandelnden Lebenswirklichkeit angepasst. Das ist auch gut so, wie Christoph Grabenwarter darlegt: „Eine Verfassung lebt nicht nur vom Buchstaben des Gesetzes, sondern auch davon, wie sie von den verantwortlichen Organen gehandhabt wird.“
Der Jurist zieht einen Vergleich zur Rolle des Bundespräsidenten, dessen Befugnisse ab und zu in der Diskussion standen. Über die Jahrzehnte habe sich eine zurückhaltende Form der Ausübung dieser Befugnisse etabliert, die maßgeblich zu einem guten Miteinander von Regierung, Parlament und Bundespräsident beigetragen hätte.
Nicht nur der Bundespräsident hat in Österreich eine herausgehobene Stellung. Das Gleiche gilt für die Verfassungsgerichtsbarkeit, weiß Grabenwarter: „Gemeinsam mit der damaligen Tschechoslowakei hatten wir das erste Verfassungsgericht mit spezialisierter Normenkontrolle. Rechtsstaatlich von großer Bedeutung ist auch die vor fünf Jahren eingeführte mehrstufige Verwaltungsgerichtsbarkeit. Weltweit haben wir sicher eine der am besten entwickelten Formen des gerichtlichen Rechtsschutzes im öffentlichen Recht.“
Über Ihren gemeinsam verfassten Kommentar „B-VG Bundes-Verfassungsgesetz und Grundrecht“ sprechen Präsident Christoph Grabenwarter und Generalsekretär Stefan Leo Frank in der Ausgabe 9-10/2020 der Zeitschrift RECHTaktuell.